Es gibt mehrere Gründe dafür, warum die Gesellschaften des Westens derzeit immer weiter nach rechts rutschen. Russische Propaganda spielt dabei genauso eine Rolle wie die völlig enthemmten „sozialen Medien“. Aber das Problem sitzt letztlich tiefer. Und das hat auch mit einem Wort zu tun, mit dem Angela Merkel als Bundeskanzlerin die 16 Jahre ihrer Politik begründet hat: alternativlos. Doch das Wort war immer schon eine Lüge, auch schon als Margaret Thatcher es zur Begründung ihrer Politik heranzog. Andreas Speit nimmt die Folgen dieser Denkweise unter die Lupe.

Denn rechtsextreme und populistische Parteien hätten überhaupt keine Angriffsfläche in der Demokratie, wären da nicht Millionen frustrierte, enttäuschte und angsterfüllte Wähler, die nur zu bereitwillig den simplen Versprechungen rechter Politiker folgen. Auch weil sie sich eine „starke Führung“ wünschen.

Ein Topos, der in Umfragen zur Verfassung der Wählerinnen und Wähler bei einem gehörigen Prozentsatz der Befragten immer wieder auftaucht – genauso wie typische rechtsextreme Ansichten zu Staat, zu Teilhabe und Migration. Die Andreas Speit natürlich auch kenntnisreich zitiert. Als Journalist beschäftigt er sich seit Jahren mit Rechtsextremismus, Reichsbürger- und Querdenkerszene. Drei scheinbar völlig unterschiedliche Phänomene des gesellschaftlichen Unmuts. Die aber in wesentlichen Punkten verwandt sind.

Und die auch auf einer Grundhaltung aufsetzen, die sich in den vergangenen 40 Jahren der neoliberalen Radikalisierung regelrecht festgesetzt hat in den Köpfen der Bundesbürger: dass die eigene „Freiheit“ über allem steht, der Staat sich nicht einmischen soll und jeder selbst schuld ist an seinem Erfolg oder Misserfolg.

Die Ohnmacht in der falschen Freiheit

Aber diese Art Denken über Erfolg macht einsam und lässt die Menschen ihre eigene Ohnmacht spüren. Erst recht, wenn sie scheitern und multiple Krisen dafür sorgen, dass der Glaube an den wirtschaftlichen Erfolg Risse bekommt. Mit Speits Worten: „Den liberalen Demokratien fehlen jedoch selbst neue Narrative, als Resultat der ‚neoliberalen‘ Komplizenschaft mit der angeblich alternativlosen Politik. Sie lässt den Menschen mit sich selbst alleine – verloren in der Spätmoderne. Diese Singularisierung heizt die autoritäre Rebellion weiter an.“

Denn die autoritären Parteien versprechen etwas: wieder Ruhe und Sicherheit, wenn alles wieder irgendwie wird wie in einem glorifizierten Früher. Mit stabilen (patriarchalischen) Regeln und einer straffen gesellschaftlichen Hierarchie, in der die Macht autoritär organisiert und sichtbar ist. Was in den Köpfen vieler Menschen wie eine Befreiung wirkt. Denn statt der herausfordernden Freiheit in einer offenen, immerfort in Veränderung befindlichen Gesellschaft bekommt man eine simple und klare Hierarchie und darin die „Freiheit“, sich mit den ganzen Komplikationen der Welt nicht mehr beschäftigen zu müssen.

Ein Heilsversprechen, das die Rechtsradikalen auch noch anheizen, indem sie die Medien mit Untergangsszenarien fluten. Denn Menschen, die Angst haben, sehnen sich nach Führung. Und das hat schon mehrmals so funktioniert. Denn zum Aufstieg der Moderne gehört auch von Anfang an die in ihr angelegte Regression, die Sehnsucht nach einem romantisch aufgeladenen Es-war-einmal.

Mit Speits Worten: „Derweil bieten Antidemokrat*innen unterschiedlichster Couleur eine Vision an: eine vormoderne, homogene Gemeinschaft, ethnisch und kulturell gleich. (…) Im rechtsextremen Milieu werden Bedrohungsszenarien vom Untergang des ‚christlichen Abendlandes‘ bis zum ‚Großen Austausch‘ immer wieder heraufbeschworen und finden Anklang in größeren Teilen der Bevölkerung – ohne das apokalyptische Ende kein politischer Erfolg.“

Die Verkitschung der Vergangenheit

Und diese geistige Regression kann Speit bis in die deutsche Romantik verfolgen, als die deutschen Autoren und Philosophen die heile Welt eines imaginierten Mittelalters heraufbeschworen, in dem die Welt – scheinbar – noch heil war. Was sie nie war. Aber das verkitschte Umschreiben von Geschichte gehört seitdem fest zum Inventar rechtsradikaler Bewegungen.

Das war auch um 1900 nicht anders und auch nicht bei all den „Großdenkern“, die das Hitlerreich geistig vorbereiteten. Eine Volte, die sich ideal ergänzt mit dem Begriff von „Freiheit“, den die enthemmten Rechtsradikalen vertreten. Speit: „Sie alle eint der antimoderne Reflex, indem ausschließlich ihre Freiheit und ihre Rechte relevant sind. Sie alle kommen aus der Mitte der Marktgesellschaft und triggern sich durch die eigene Entfremdung.“

In diesen Gruppierungen vereinen sich „Selbstermächtigung und Menschenfeindlichkeit“, wie Speit ein ganz zentrales Kapitel überschrieben hat. Ein Kapitel, in dem er näher beleuchtet, wie die staatlichen Deregulierungen und Entfesselungen des Marktes für genau dieses Denken den Zündstoff verschaffen. Denn auch die „Freiheit“ der Marktradikalen meint ja nicht die freiheitlichen Rechte für alle, sondern nur die Freiheit derer, die sich mit dem Ellenbogen und Rücksichtslosigkeit durchsetzen.

„Die staatlichen Reaktionen fluktuierten zwischen fortschreitender Deregulierung des Arbeits- und Finanzmarktes und verschärften Kontrollbemühungen gegen die Arbeitenden und Transferleistungsbeziehenden“, so Speit und zitiert den Soziologen Wilhelm Heitmeyer: „Ein zunehmender autoritärer Kapitalismus verstärkt soziale Desintegrationsprozesse in westlichen Gesellschaften, erzeugt zerstörerischen Druck auf liberale Demokratien und befördert autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime.“

Die Träume der Machtlosen von der Macht

Eigentlich ist das für jeden nachvollziehbar. Es sind ganz reale Status- und Existenzängste, die die Menschen zunehmend in Panik versetzen. „Statt des Versprechens, die ‚Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, multipliziert‘ er in ‚Wirklichkeit die Zahl der Ängste‘,“, zitiert Speit die Soziologin Eva Illouz. „Die Hoffnungen, die mit der Moderne einsetzten, seien vermischt mit ‚Enttäuschung, Neid. Zorn, Ressentiment, Furcht und Nostalgie.‘“

Wer also im politischen Wahlkampf auf die noch Schwächeren eindrischt und sie zu den Sündenböcken für die spürbaren gesellschaftlichen Brüche und Verwerfungen macht, der spielt das Spiel der Rechtsradikalen. Im Bundestagswahlkampf war das einmal mehr in blanko zu besichtigen. Der Blick fällt nicht mehr auf die Machenschaften, mit denen der gesellschaftliche Reichtum tatsächlich geplündert wird, sondern richtet sich auf die scheinbaren Konkurrenten noch weiter unten. Und auf die golden angemalte Vergangenheit, in die sich die Sehnsucht flüchtet.

Denn der autoritäre Charakter, wie es nun schon viele soziologische Studien festgestellt haben, sehnt sich nicht nach Freiheit. Vor der fürchtet er sich geradezu. Er sehnt sich nach Verlässlichkeit, Beständigkeit („Verweile doch …!“, nach Hierarchien und Macht über andere. Weshalb er auch niemals eine Revolution beginnen würde, die neue Zustände schafft. Das will er gar nicht. Auch wenn er sich in Reden und Schriften revolutionär gebärdet und sich selbst als Revolutionär verkauft.

Die Rebellion gegen die Institutionen der Macht

Weshalb schon der Psychoanalytiker Erich Fromm dem autoritären Charakter alles Revolutionäre absprach und ihn dafür „einen Rebellen“ nannte. Und Speit kann gerade an Ereignissen der jüngsten Vergangenheit – wie dem „Sturm auf den Bundestag“ – zeigen, wie der rebellisch-autoritäre Charakter heute agiert. Und er merkt durchaus berechtigt an, dass es so ähnlich auch in den 1920er Jahren war, die ja schon des Öfteren herhalten mussten als Vergleich zur zunehmend radikalisierten Gegenwart. Für Fromm war der beliebteste Fluchtweg des autoritären Menschen auch vor 100 Jahren schon die autoritäre Unterwerfung. Freiheit und Selbstverantwortung überfordern ihn.

Aber dabei bleibt Speit nicht stehen. Denn wo bleibt da die Rebellion? Wer selbst die Macht haben will, rebelliert gegen die bestehenden Institutionen der Macht. „Die ‚regressiven Rebellen unserer Tage‘, so heben Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey hervor, ‚rebellieren gegen die Institutionen und Apparate‘.“ Und da werden sie dann gar nicht unverhofft zu Handlangern jener Leute, die sowieso schon nichts anderes vorhaben, als die Institutionen der Demokratie zu zerstören – Typen wie Donald Trump und Elon Musk.

„Der libertär Autoritäre rebelliert und akzeptiert vor allem seine individuelle Autorität, wie Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ausführen. Beide Wendungen des Autoritären eint, für Freiheit und Demokratie zu protestieren, die sie in ihrem Sinne umdefinieren. Sie wollen eine Freiheit ohne die Freiheit der Andersdenkenden, und sie wollen eine Demokratie, ohne demokratische Regeln befolgen zu müssen.“

Und so lange die Verteidiger der Demokratie dem nicht eine starke Vision entgegensetzen, haben die Untergangs- und Zerstörungsbilder der Autoritären Wirkung, können sie den Wählern Entmündigung und Machtgier als Freiheit verkaufen und die staatlichen Institutionen verunglimpfen, die tatsächlich ein gewisses Maß an Freiheit und Gleichheit für alle garantieren.

Aufklärung lebt von Alternativen

Speit zitiert am Ende Adorno und Horkheimer, die sehr wohl wussten, wie gefährdet das Projekt der Aufklärung immer war: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltbare Regression.“ Der Fortschritt selbst produziert die Sehnsüchte der von Veränderungen Überforderten nach einer als heil imaginierten besseren Vergangenheit.

Aber tatsächlich tödlich für die aufgeklärte Gesellschaft ist es, wenn Politiker/-innen ihre Politik als „alternativlos“ deklarieren. Denn genau das hat mit aufgeklärtem Regieren nichts mehr zu tun. Das „Wesen der Aufklärung“, so fasst Speit die Sicht von Horkheimer und Adorno zusammen, sei es nun einmal, in Alternativen zu denken.

Aber eigentlich steckt in Speits Essay auch noch eine andere Botschaft: Genauso, wie man Trolle nicht füttern sollte, sollte man – wenn man die Demokratie bewahren möchte, auch nicht die Parolen und Forderungen der Autoritären übernehmen.

Denn damit füttert man ebenso immer nur das autoritäre Denken über die Welt. Und stärkt genau die Typen, die mit Lust daran arbeiten, die Demokratie zu zerstören. Was eben einschließt, dass man auch die autoritären Mechanismen nicht ignorieren sollte, die in marktradikalen Vorstellungen wie „Neoliberalismus“ und „Globalisierung“ stecken. Mechanismen, die mit der Angst all jener operieren, die – berechtigterweise – um ihre wirtschaftliche Existenzsicherung fürchten.

Mit Fortschritt hat diese falsche „Freiheit“ der Rücksichtslosen nichts zu tun. Aber sie bereitet genau jenen Boden, auf dem die autoritären Rebellen Zulauf erhalten und nur zu bereit sind, die Institutionen der Demokratie zu schleifen. Wer das im Hinterkopf behält, versteht einiges mehr von dem, was gerade in unserer Gesellschaft so gründlich schiefgeht.

Andreas Speit „Autoritäre Rebellion“ Ch. Links Verlag, Berlin 2025, 20 Euro.

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