Die Serie der „Biblischen Gestalten“ in der Evangelischen Verlagsbuchhandlung wächst. Kompetente Autorinnen und Autoren beleuchten dabei die historischen Hintergründe der Erzählungen aus der Bibel, versuchen die legendären Gestalten auch möglichst zu verifizieren. Aber indem sie die einzelnen Erzählungen von allen Seiten unter die Lupe nehmen, wird auch die Entstehungsgeschichte der einzelnen Geschichten sichtbar. Und ihre Rolle im Kontext der jüdischen und der christlichen Religion. Aber Judit? Gehört sie nicht in die apokryphen Bücher?
Apokryph aber heißt einfach: außerhalb des biblischen Kanons, also jener Bücher, von denen die Herausgeber meinen, sie gehörten unbedingt zum Kanon. Und die Apokryphen eher nicht. Eine rein subjektive Entscheidung.
So war es auch bei Martin Luther, der das Buch Judit zwar mit aufnahm in die Bibelübersetzung, es aber zusammen mit anderen Apokryphen in den Anhang verbannte. Spätere Drucker und Herausgeber der Lutherbibel sparten diesen „Anhang“ dann einfach ein und so verschwand mit den anderen apokryphen Schriften auch das Buch Judit lange Zeit aus der Rezeption der protestantischen Kirchen.
Obwohl das Buch selbst in der im Mittelalter MaĂźstab gebenden Vulgata in einer sehr drastischen Ăśberarbeitung durch Hieronymus enthalten war. Welche biblischen Gestalten also auch fĂĽr die eigene Religionssicht fĂĽr wichtig erachtet wurden und welche nicht, war immer eine subjektive Entscheidung.
Ein Land in Bedrängnis
Aber wirklich verschwunden war diese Judit nie, auch wenn sie eigentlich für das Selbstverständnis der Juden eine viel größere Rolle spielte. Denn wie kaum eine andere Geschichte bringt sie die jüdische Erfahrung eines immerfort von aggressiven Großmächten bedrohten Volkes zu Ausdruck. Auch wenn sie – wie alle Untersuchungen zeigen – völlig frei erfunden ist.
Weder gibt es die wehrhafte Stadt Betulia, noch gab es den Kriegszug des Feldherrn Holofernes im Auftrag des Königs Nebukadnezar, der in mehreren Geschichten des Alten Testaments als Prototyp des autoritären Herrschers auftaucht. Und so gab es auch nicht die Belagerung Betulias durch das Heer des Holofernes, die nicht nur mit der Eroberung Betulias zu enden drohte, sondern – wieder einmal – mit einer Eroberung Judäas und einer Zerstörung Jerusalems.
Eine Erfahrung, die zur jahrhundertelangen Geschichte der beiden Länder Juda und Israel gehörte. Mal waren es die Babylonier, mal die Ägypter, mal die Assyrer, mal die Perser, die mit ihren Heeren in das Land einfielen, Städte und Tempel zerstörten und den kleinen Staaten zeigten, wo der militärische Hammer hängt. So gesehen gerinnt in der Judit-Geschichte eine jahrhundertelange Leidenserfahrung, auch wenn sie wohl erst in der Regierungszeit der Hasmonäer entstand, also rund 150 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung.
Und der Text spiegelt deshalb auch die Konflikte dieser Zeit. Erst kurz zuvor hatte der Makkabäeraufstand die Hasmonäer an die Macht gebracht. Ein Aufstand, der auch eine Revolte gegen die Hellenisierung Judas war. Und da wird es spannend, denn eine hebräische Urvariante der Judit-Geschichte gibt es wohl nicht. Überliefert ist sie in ihrer frühesten Form auf Griechisch, zeugt also von der Sprache und auch vom Aufbau her geradezu von der Hellenisierung des Landes. Und gleichzeitig erzählt sie eine typische jüdische Widerstandsgeschichte gegen eine fremde Macht.
Judits Gottvertrauen
Typisch auch deshalb, weil Gott in diesen Geschichten dafür immer wieder unerwartete, meist schwache Protagonisten auswählt, denen es gelingt, übermächtige Feinde zu schlagen. Man denke nur an David und Goliath. Oft mit List, mit Klugheit und vor allem mit Gottvertrauen. Aber eben nicht im gerade in jüdischen Geschichten meist kritisierten Sinn, dass man einfach abwartet, was Gott nun macht, und die Hände in den Schoß legt. Oder – wie die Stadtältesten in dieser Geschichte – einen ganzen Forderungskatalog an Gott in den Himmel schickt, der bitte schön binnen fünf Tage erfüllt sein sollte, sonst würde man sich der assyrischen Übermacht ergeben.
Judit steht für ein anderes Verständnis von Gottvertrauen: Sie handelt und begreift sich selbst als die Erfüllerin dessen, was Gott will. Auch wenn alles, was geschieht, eigentlich nur ihrer Klugheit und ihrem Wagemut zu verdanken ist. Denn die in strenger Religionsausübung lebende Witwe macht sich nicht nur schön, bevor sie ins Lager der Assyrer aufbricht und sich zum Feldherren Holofernes bringen lässt.
Sie spielt auch mit der Verführbarkeit und Leichtgläubigkeit der Männer. Ein Moment, der spätere Aufnahmen des Judit-Stoffes natürlich prägte. Denn darin kann Mann, wenn er will, sexuelle Motive entdecken und diese ins Zentrum vom Bild und Erzählung stellen. Oder wie Friedrich Hebbel in den Mittelpunkt eines folgenreichen Dramas.
Jede Zeit fertigt sich ihr eigenes Bild von dieser Judit. Da war Hebbel nicht der Erste. Hieronymus hat die Geschichte so umgeschrieben, dass vor allem Judits Keuschheit im Mittelpunkt steht. Was nun einmal der mittelalterlichen Interpretation von Frauenrollen entsprach. Was aber nicht wirklich der Intention der ursprünglichen Erzählung entspricht, wie Marc Wischnowsky und Michaela Veit-Engelmann akribisch herausarbeiten.
Denn da steht nun einmal das Thema Gottvertrauen im Mittelpunkt. Gleichzeitig aber auch das souveräne Agieren einer Frau, die eigentlich in der patriarchalischen Welt damals zu den eher schwachen und machtlosen Gesellschaftsmitgliedern gehörte. Denn Witwen gehörten damals eher zu denen, die in der sozialen Hierarchie ganz unten standen. Es sei denn, sie waren – wie Judit – reich und selbstständig. Eine Ausnahme also.
Eine starke Frau
Dass sie dann auch noch in festem Glauben beginnt, eigenständig zu handeln und den verängstigten Ältesten in der Stadt zu zeigen, dass die Rettung manchmal in der mutigen Tat einer scheinbar schwachen Frau liegen kann, hebt sie natürlich heraus aus diesen alten Deutungsmustern. Und bringt einen Aspekt mit sich, der im damaligen Juda garantiert eine Rolle spielte, als sich jemand gerade diese Geschichte und diese Heldin ausdachte. Denn garantiert war das auch damals unerhört, dass auf einmal eine schwache, aber selbstbewusste Frau den Männern zeigte, wie man das Böse besiegt. Was Judit natürlich auch zu einer Figur macht, die im modernen Feminismus rezipiert wird.
Während etliche Dichter und Maler seit der Renaissance eher die Schöne und Fatale rezipierten, die mit ihrer Schönheit den Feldherrn der Assyer betört und ihm dann, als er volltrunken auf seiner Bettstatt liegt, den Kopf abschneidet. Mit seinem eigenen Schwert. Das ist so schön gruselig und rührt wahrscheinlich an die tief liegenden Ängste vieler Männer. Die Geschichten changieren dann zwischen Bewunderung und Entsetzen.
Und gleichzeitig erzählt ja die Judit-Geschichte von etwas, was die alten und neue Machos so ungern wahrhaben wollen: Dass Frauen nur in ihren Augen schwache und wehrlose Geschöpfe sind. Dass Frauen gar klüger sein können als die ach so mächtigen Männer.
Die modernen Holofernesse
Und da wird es spannend und still. Denn diesen Seitenblick auf eine Gegenwart, in der kopflose Machtmänner wieder Politik zur großen Prügelei machen, sparen Wischnowsky und Veit-Engelmann aus. Wohl aus gutem Grund. Denn das kann sich natürlich ändern. Zeitgeschichte ist vergänglich. Die heutigen Holofernesse und Nebukadnezars, die sich für Götter halten, sind genauso sterblich wie ihre biblischen Vorfahren. Und in der Regel stolpern sie über kleine Dinge, die sie übersehen haben, verachten die scheinbar Schwachen und halten sich für unbesiegbar.
Und zetteln dann Kriege an. Was meist das einzige Mittel ist, das sie verstehen: den Schwächeren nicht nur zu drohen, sondern gleich rabiat über sie herzufallen. Gewalt als Lösung für alle Probleme. Und als Bestätigung für schwache Egos, die sich anders nicht zu präsentieren wissen.
Man merkt schon: In dieser Geschichte, die von einem unbekannten Autor oder gar möglicherweise einer unbekannten Autorin geschrieben wurde, welche die jüdischen Glaubenserzählungen bestens kannte, steckt viel mehr, als es sich beim ersten Lesen erschließt. Auch mehr, als die rein theologische Interpretation der Geschichte hergibt. Eben weil der jüdische Teil der Bibel nicht nur Theologie ist, sondern gleichzeitig auch immer eine Reflexion von Landesgeschichte und Leidensgeschichte, der eigenen Rolle als kleines Volk im ständigen Zugriff der rücksichtslosen Großmächte.
Immer wieder marschierten die fremden Truppen ein, entführten die Elite, zerstörten die heiligen Stätten. Und natürlich braucht es dann eine Antwort: Wer ist schuld? Oder ist es einfach die Tatsache, dass die Juden mal wieder die so wichtigen heiligen Gebräuche vernachlässigt haben? Denn Gott war doch mit ihnen. Warum hat er sie damn im Stich gelassen? Oder ist der Einfall der fremden Heere nur wieder eine Prüfung?
Widerschein der Gegenwart
So birgt die Judit-Geschichte eben auch bis heute das Selbstgefühl einer Glaubensgemeinschaft und eines Volkes, das seine Existenz fortwährend durch räuberische Nachbarn bedroht sieht. Was natürlich auch den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 in ein anderes Licht rückt. Denn dann hat dieser Überfall ein uraltes Trauma wachgerufen. Auf das die konservative Regierung Israels freilich nicht wie Judit reagiert, sondern mit der ganzen militärischen Gewalt, über die Israel heute verfügt.
Aber genau diese Frage diskutiert ja die Judit-Geschichte: Wie beendet man einen Krieg? Oder: Wie beendet Gott einen Krieg? Und: Ist die Enthauptung des feindlichen Feldherrn schon das Ende des Krieges?
Leider nein, erzählt die Geschichte, die ja mit der Rückkehr Judits und ihrer Magd mit dem Kopf des Holofernes nach Betulia nicht endet. Denn jetzt ist das kopflos gewordene Heer der Assyrer dran. Und die Kämpfer aus Betulia kennen keinen Pardon. 30 Tage wüten sie im Feldlager der Assyrer.
Und auch wenn die Geschichte nur erfunden ist: Es steckt eine Unerbittlichkeit darin, die heute zu denken gibt. Noch so ein Aspekt, der Judits Geschichte sehr aktuell macht. Und anregt, sich mit diesem Buch all den verschiedenen Aspekten der über 2.000 Jahre alten Erzählung zu nähern. Ein Buch, das einmal mehr deutlich macht, dass in den berühmten biblischen Gestalten viel mehr steckt, als ein oberflächliches Lesen verrät.
Marc Wischnowsky, Michaela Veit-Engelmann „Judit“, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2025, 25 Euro.
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