Es ist eine vertrackte Geschichte, die Anna Herzig in diesem Buch erzählt. Eine Geschichte, die scheinbar nur mit einer total verschreckten Autorin namens Franziska Großhirsch beginnt, die mit einer Geschichte einen renommierten Literaturpreis in Österreich gewonnen hat. Eigentlich Stoff genug für einen Gänsehautroman. Denn wer die Szene kennt, weiß, wie nervenaufreibend der Wettbewerb um die großen und finanziell auch hoch dotierten Literaturpreise ist. Manchmal geradezu überlebenswichtig. Aber.
Ein Aber ist immer dabei. In diesem Fall sogar ganz viele Aber. Was damit beginnt, dass die Gewinnergeschichte eigentlich nicht von Franziska ist, die mit ihrem Erfolg als Autorin sowieso hadert. Was eigentlich alle kennen, die in diesem Metier unterwegs sind. Der Zweifel ist immer dabei: Ist das gut genug, was ich schreibe? Ist das eine Story, die tatsächlich die Leser fasziniert?
Oder ist das doch nur reiner Dilettantismus? Durchschaubar für die Profis in den Jurys, die ja immer so selbstsicher verkünden, warum ausgerechnet der Text, den sie für den Preis vorschlagen, aus allen möglichen stilistischen und literaturwissenschaftlichen Gründen der beste ist?
Eine erfolglose Bewerbung kann das ganze Selbstbewusstsein zerstören. Und selbst den talentiertesten Erzählerinnen das Gefühl verschaffen, nicht zu genügen. Das wäre schon Hölle genug für Franziska, die sich zu Beginn dieser Geschichte in ihrer Wohnung verbarrikadiert hat, das Smartphone ins Gefrierfach des Kühlschranks gesperrt hat und nichts hören und sehen will.
Selbst die Tante steht vor der Tür und fordert einen Teil des Preisgeldes. Jene Tante, bei der Franziska eigentlich eine geradezu fürchterliche Kindheit erlebt hat. Zumindest erinnert sie sich so. In Rückblenden werden Stück um Stück die Teile dieser Kindheit lebendig, die mit einer Mutter begann, die das Kind nicht in ihrem Leben haben wollte, und es ihrer Schwester zur Betreuung gab. Die aber keine Empathie für das Kind aufbringen kann, wie es aussieht.
Die Geister der Kindheit
Auch das Stoff für einen Roman, der einen von den Socken reißen kann. Weil solche Kindheiten einen durchs Leben verfolgen, alle Beziehungen vergiften und einem genau das Selbstbewusstsein rauben, das einem dann fehlt, wenn es im Leben heißt zu kämpfen und sich zu behaupten. Aber da passierte noch mehr in dieser Kindheit, die halb verdrängt ist. Und man ahnt es früher, als es im Text Gestalt annimmt, dass dahinter auch eine Missbrauchsgeschichte stecken könnte.
Anna Herzig weist schon gleich nach dem Titelblatt darauf hin, dass es in diese Höllen gehen könnte, wenn sie in ihrer Widmung schreibt: „Für alle, die eine schwere Kindheit überlebt haben.“
Franziskas einziger Halt in dieser Zeit war ihr Großvater, jener Walter Werner Großhirsch, der Franziska „für den Notfall“ jenes Buch hinterließ, in dem die Geschichte „Das Seil“ steht. Hilft er ihr also ein letztes Mal? Oder wäre er mit diesem Deal so überhaupt nicht einverstanden? Sucht er sie jetzt heim, obwohl er längst gestorben ist?
Wird er auch auf der Preisverleihung auftauchen, die für Franziska wie ein Gang nach Canossa ist? Bricht sie unter ihrem schlechten Gewissen zusammen? Oder sind es schlicht die Albträume ihrer Kindheit, die jetzt alle wieder wach werden? Und die nie wirklich verschwunden waren, weil man das nicht loswird im Leben. Weil es sich immer zu Wort meldet, wenn es schwer wird und das eigene Selbstbild in Scherben fällt.
Welche Geschichte erzählen wir uns selbst?
Weshalb das Erzählen darüber so schwer ist. Und so fragmentiert. Man bekommt es nicht zu packen. Mit der Geschichte vom Seil aber verbindet sich die Außenseitergeschichte des Großvaters selbst – seine Geschichte und die seiner Liebe zu einer schwermütigen Geliebten.
Eine Liebe, die das moralinsaure Dorf nicht zu verstehen bereit ist. Und an der er trotzdem festhält, als ihn dann die eigenen Eltern enterben. So, wie er zu seiner Liebe steht, steht er auch zu seinem Enkelkind. Liebe ist bedingungslos. Das könnte ein völlig eigenes Buch ergeben.
Aber in Anna Herzigs Geschichte verstricken sich die Geschichten. Manchmal scheinen die Puzzlestücke nicht zu passen. Manchmal scheinen die Erinnerungen unzuverlässig. Ist wirklich alles so passiert, wie es sich die erwachsen gewordene Franziska erklärt? Denn eine Erklärung muss doch so eine Kindheit haben. Woher kommen die Ängste und die Ohnmachtsgefühle?
Das wäre schon genug Stoff, die Geschichte auf ihren Höhepunkt zu treiben. Doch so passieren Geschichten in der Wirklichkeit nicht. Wir erzählen sie nur so, um ihnen einen Sinn zu geben, eine Folgerichtigkeit, die das Leben nicht hat. Wir erzählen uns unser Leben und geben ihm nachträglich so etwas wie einen roten Faden. Als wenn wir zielstrebig daran entlanggegangen wären.
Sind wir aber nie. Also schnappt sich Anna Herzig die ganze Franziska-Geschichte und stülpt sie noch einmal komplett um. Zeigt, dass sich hinter einer erzählten Missbrauchs-Geschichte auch eine ganz andere Missbrauchs-Geschichte verstecken kann. Die am Ende eine der scheinbaren Randfiguren aus Franziskas Geschichten erzählt.
Eigentlich noch hilfloser den eigenen Erinnerungen ausgesetzt. Weil sie noch unsagbarer sind. Sodass die Flucht in Franziskas Geschichte auch eine Erleichterung ist, ein Erzählen vom Unfassbaren, indem man das Erlebte verfremdet. Und damit schützende, verfremdende Distanz schafft.
Trügerische Erinnerungen
Womit Anna Herzig im Grunde eine Tatsache zum Stil der Erzählung macht, die immer wieder wirksam wird, wenn Misbrauchsbetroffene versuchen, das Erlebte zu erzählen. Es aber von sich selbst wegschieben, um der Wucht der Gefühle zu entkommen. Und der tief sitzenden Demütigung, die selbst noch im Erinnern lebendig ist.
Oder um einen Buchtitel von Alice Miller zu zitieren: „Du sollst nicht merken“. Die Misshandlung des Kindes durch die Menschen, die es eigentlich schützen und lieben sollten, wird zum lebenslangen Tabu. Das ganze Selbstbild ist bis auf den Grund verunsichert. Denn das Vertrauen ins eigene Ich lernt man durch zugewandte Eltern, die einem zeigen, dass man einfach dafür geliebt wird, dass man da ist. Eine Stärke, die man Leben dringend braucht.
Doch die hat Franziska nicht. Auch das macht das Erzählen von Geschichten fast unmöglich. Was stimmt nun? Welche Erinnerung ist die Richtige? War es nicht die Tante, die Franziska das Manuskript des Großvaters in die Hand drückte, damit sie endlich Erfolg hat? Und sie erstmals wirklich in den Arm nimmt? Hat sie die Tochter ihrer Schwester nicht eigentlich geschützt? Anders als ihren eigenen Sohn, den Martin?
Am Ende können gar nicht alle Fragen beantwortet werden. So, wie im richtigen Leben. Übrig bleiben immer nur die Geschichten, die tatsächlich erzählt werden. Egal, was sie behaupten oder ausblenden. Und das bedeutet eben auch nicht, dass immer die richtigen Geschichten die großen Literaturpreise gewinnen.
Oft sind es auch nur erträumte Geschichten, Fiktionen, wie auch das letzte Wort dieses Romans lautet. Wir erzählen uns, was erzählt werden kann. Oft genug ist es nicht das, was wirklich passiert ist. Was auch Franziska nie erzählen würde, würde sie nicht unverhofft ihrem Peiniger begegnen. Ausgerechnet am Tag der Preisverleihung. Wenn es denn ihre Preisverleihung war. Und nicht die eines anderen.
Anna Herzig Das Seil Septime Verlag, Wien 2025, 19,50 Euro.
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