Manchmal passiert es ja, dass es im Leben ganz und gar nicht so geht, wie man sich das anfangs so dachte. Statt zur See zu fahren, wurde Dirk Tilsner Nachrichtentechniker. 1994 verschlug es ihn nach Portugal, wo der in Luckenwalde Geborene in Lissabon seine Zelte aufschlug und blieb. Irgendwann trieb es ihn dann dazu, seinem Leben ein bisschen Poesie zu geben und Gedichte zu schreiben. Denn in Gedichten darf man, was man sonst nicht darf – seine Gedanken schweifen und tummeln zu lassen. Sie stammen aus der Welt unserer Verträumtheiten und Abschweifungen.
Denn unser Kopf ist geschäftig. Manche merken das nicht. Andere sind davon eher verstört, weil sie mit den Assoziationen, Einblendungen und Erinnerungsfetzen, die in stillen Momente aufploppen, nichts anfangen können, das eher als verwirrend empfinden, weil das scheinbar nicht mit unseren Ansichten vom klaren und stringenten Denken zusammengeht.
Aber wen dieser dichterische Hauch erwischt, der weiß, dass sich die Leute damit selbst belügen. Wir sind alle nicht so rational, wie wir gern tun. Gerade diejenigen nicht, die immer so felsenfest ihre Meinung behaupten. Die in ihrer Eindimensionalität eher davon erzählt, dass sie die Potenziale ihres rumorenden Gehirns nie genutzt und nie begriffen haben.
Welten im Kopf
Dichter erfinden zwar keine Relatitivtätstheorien. Aber sie wissen, dass alles relativ ist, dass wir unser Leben in Assoziationen und Verknüpfungen wahrnehmen, die oft genug abenteuerlich sind, schwer zu greifen, tumultarisch. Manchmal scheint alles durcheinander zu gehen, vermischen sich die Welten und Bilder. Aber genau hier merken die Aufmerksamen unter uns, wie viel Spaß unser Gehirn eigentlich dabei hat, wenn es Träume und Gewissheiten, Bilder und Worte, Gerüche und alte Erinnerungen einfach mal durcheinander wirft, uns herausreißt aus dem scheinbar banalen Da-Sein, in dem scheinbar nichts passiert.
Aber im Kopf passiert immer etwas. Und wer geübt hat, darauf zu achten, weiß, dass man manchmal einiges von diesem Überschuss in Texte verwandeln kann. Assoziativ, in Versform, komprimiert, so dass sich dann auch auf dem Papier (oder dem Bildschirm) etwas abzeichnet von dem fließenden Reichtum unserer Gedankenströme.
Und so etwas bietet Tilsner hier in 90 Gedichten, in denen es eigentlich überhaupt nicht um Blumen geht, auch wenn elf Farb-Gedichte sich scheinbar mit den Farben der Blumen beschäftigen – oder eben dem, was das entflammte Gehirn herbeizaubert, wenn wir an Farben denken. An Weiß zum Beispiel: Pupillenreflexe, Unschuld, Ja-Wort, „die Summe von allem (Gut und Böse)“. Womit die Leser schon einmal ahnen: Dieser Dichter liebt die Assoziationen.
Er bändigt sie nicht, sondern lässt sie fließen. Lässt sich darauf ein, was sein losgelassener Kopf ihm anbietet. Und natürlich werden auch das Gedichte. Sie sind wie kleine Füllhörner des Denkbaren. Und erinnern die aufmerksamen Leser zumindest daran, wie wild es manchmal zugeht in unserem Gedankenkosmos.
Die Einsamkeit des Schreibenden und das Du
Was freilich immer den bekannten Schatten hat: die Einsamkeit des Schreibenden. Denn wer Gedichte schreibt, unterhält sich mit sich selbst. Auch wenn er – wie Tilsner – des Öfteren ein Du anspricht, bei dem nicht recht greifbar ist: Ist es die Lebensgefährtin, mit der es mal wieder Streit gab? Ist der Leser damit gemeint? Oder doch das eigene Du, mit dem man sich ja auch unterhält, wenn man mit sich selbst nicht im Reinen ist.
Was eigentlich normal ist in einer Zeit, in der ständig auf einen eingeredet wird und man sich mit Worten und Sprachfetzen beschäftigen muss, die eigentlich in den Papierkorb gehören. Die dann aber doch unverhofft in die Texte strömen, sich zwischen romantisch Gesagtes drängen, mitten hinein in die Selbsterkundungen des Autors.
Spätestens da merkt man, wie dieser Wortsalat überall eindringt. Wir sind nicht ungestört. Und nicht mal beim tiefen Versunkensein sind wir allein. Immer echot da der Lärm einer Zeit hinein, die nicht bei sich ist und auch nicht bei sich sein will. Wenn es auch etwas verdreht auftaucht wie in „Spiritus Lecter“ oder „Briefing im Pyjama“.
Auch die Bürowelt, in der der Autor seine Arbeitstage zubringt, flammt immer wieder auf. Genauso wie seine Belesenheit in den klassischen Stardardwelten der Poesie. Es geht schon beim Anblick der Schreibwerkzeuge los – so wie in „Inventur mit Ausblick“: „das ist mein Tisch / mein Laptop, meine Hände, zwei fanatische / Kulturrevolutionäre, die dir dieses /(nennen wir es ruhig) / Gedicht in die Synapsen prügeln wollen ehm … müssen …“
Ist es also doch das Ich des Dichters, das er hier mit Du anspricht? Sein beobachtendes Gegenüber, das kritisch zuschaut, wie er an das Gedichtemachen geht? Und dabei kann er auch romantisch: „Noch liegt der Fluss im süßen Schlaf, streicht hin und wieder mit seinen Wimpern über Böschungen …“ (Aurora)
Homo destructor
Überhaupt diese schönen Spiele mit den griechischen Götternamen. Was bringen sie, wenn man sie heute noch spielt? Etwa mit Mars, dem Kriegsgott, der längst zum Gott der Ballerspiele geworden ist: „Game over – gestern erst. Doch wollen Götter sterben“, fragt Tilsner in „Mars“. Und treibt am Ende bis zu einer der dümmsten Ausreden, die wir heute so gern zitieren. „Zudem gab’s immer Krieg …“. Dass die Verwüstungen durch Krieg etwas mit falschem Denken zu tun haben, merkrt man am Ende. Um Kriege anzuzetteln, braucht man keinen Geist. Für Ballerspiele übrigens auch nicht.
Natürlich geht es nicht um Blumen. Sondern um eine Welt, die wir Menschen fahrlässig und gedankenlos zerstören. Komprimiert ins Bild gefasst in „Homo destructor“: „Du stehst nicht im Zentrum. Du bist es. Der Nabel schlechthin, alles entwertend und verschlingend zugleich.“ Da helfen alle schönen Sonnenaufgänge am Fluss nicht. Das Wissen darum, wie zerstörerisch wir mit unserer Welt umgehen, ist immer da. Und drängt sich keineswegs überraschend auch in die Gedichte.
Und Tilsner weiß, wie schwer es ist, sich aus diesem Gelärme herauszunehmen, die Stille zu finden, die man zum konzentrierten Schreiben eigentlich braucht: „zunächst abschalten / der Rabatz um dich herum spielt keine Rolle / Du (!) musst still halten …-.“ („Übung“)
Womit das Dilemma des Dichters in einer verlärmten Gegenwart auf den Punkt gebracht ist. Oder auf den Befehl. Da befiehlt sich einer selbst zum stillhalten. So recht still wird es bei dieser Übung dann freilich nicht. Und so mancher, der auch Gedichte schreibt, wird sagen: Hab ich’s doch gewusst. Wenn es wirklich ans Schreiben geht, merkt man erst, welch ein Tohhuwabohu in unserem Kopf herrscht.
In Gedanken
Gleich im nächste Gedicht – „Einkehr“ – beschreibt Tilsner im Grunde das Gegenteil: Wie man mitten im Büroalltag auf einmal wegtaucht in Gedanken: „gerade eben noch stand alles fest / an seinem Platz und ich mit beiden Beinen / auf dem Teppich, hier am Drucker, vor dir / unerwartet wie der Kaffeefleck auf meinem Hemd / der Ruf des Chefs bereits nach Feierabend / oder gar das sonntägliche Tief …“
Und auf einmal entschwinden Tisch, Schalter, Aktenschrank … Wem das passiert, der weiß, wie sehr man in seinen eigenen Kopfwelten verschwinden kann. Unverhofft. Mitten am Tag. Die Poesie unseres Weltwahrnehmens ist immer gleich nebenan. Nur: Wir verdrängen sie. Sie stört im Abarbeiten der durchgetakteten Abläufe. So sollen wir nicht sein. Verschwenderisch mit unserem Träumen und In-Gedanken-Sein.
Aber gerade aus diesem Stoff entstehen Gedichte. Mal tiefsinnig, mal kapriziös, mal ein bisschen melodramatisch, mal launig hingetuscht wie in „rien ne va plus“: „Dann süffeln wir mal wieder gemütlich in unseren / blauen Stunden, alle Träume zum Täuschen nah / wie die Pille für Knackarsch & Waschbrettbauch ..“
Auch das findet man bei Tilsner: Texte, die geradezu den oberflächlichen und lauten Alltag einbrechen lassen in die Zeilen, als würde er das Gedicht selbst ad absurdum führen wollen. Aber er kann auch satirisch. Denn wenn sich der Lärm der rücksichtslosen Welt schon in die Verse drängt, kann man diese lärmende Welt auch bei ihrem Widersinn packen. Das Gedicht endet mit einer Ohrfeige: „Danach süffeln wir ruhig weiter, setzen insgeheim / auf den nächsten Jackpot & vergewissern uns: / Das Klima wird schon durchhalten.“
Der Mut zum Innehalten
Da sind Wir dann schon mitgemeint. Oder ist hier das Dichter-Du gemeint? Der Dichter selbst in seiner Doppelgesichtigkeit, immerfort herausgerissen aus seinem Stillehalten, weil die entfesselte Wirklichkeit Antworten haben will. Antworten auf verwirrende Fragen wie in „Feuerpause“, in der auch der Autor vor dem Dilemma aller friedliebenden Menschen steht: Wie kommt man je wieder zusammen? Wann siegt die Einsicht? So lange gefeuert wird, ist dafür keine Möglichkeit. Und am Ende? „bliebe am Ende nicht stets die Frage: / wer fegt eigentlich die Trümmer zusammen? / Schweigen ist / Stolz“.
Auch so lässt sich Ratlosigkeit formulieren. Gerade aus dichterischer Perspektive. Denn eigentlich will auch Tilsner nur erzählen von der Schönheit der Welt, dem Betroffensein durch die Momente, die ihm begegnen beim Anblick von Tulpen, von Wäldern, von virtuosen Morgendämmerungen. Es ist ja atemberaubend. Wie geht man damit um? Flapsig oder bewundernd?
Oder einfach immer aufs neue verwirrt, dass man selbst da ist und das erlebt. Einen Moment lang, bevor es wieder zurückgeht in die bis zur Tristesse durchplante Arbeitswirklichkeit. „Planung ist das halbe Leben, also / Vorsicht, alles (!) richtig machen, mit Akkuratesse …“ („warum?“)
Das ist dann ein Gedicht, in dem sogar der Finger Gottes auftaucht. Denn die Selbstermahnung ist natürlich Humbug. Wir müssen gar nicht alles richtig machen. Wir sind keine Maschinen. Aber das merken wir meistens erst, wenn wir uns mal zum Stillhalten zwingen. Und uns auf die wilden Gedanken einlassen, die durch unsere Köpfe rauschen. Oder mit Tilsner: „wer sich stattdessen fesseln lässt / flieht in Gedanken / heim“. („nach dem Regen“)
Gedichte als Fluchten. An einen Ort, an dem wir nichts beweisen müssen. Aber dazu braucht man den Mut zum Innehalten. Aber wer hat den schon?
Dirk Tilsner „Blume im Exil“, edition anderort, Leipzig 2025, 14 Euro.
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